Nach einer neuen Entscheidung des BAG sind Arbeitgeber bereits jetzt verpflichtet, die gesamte Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter zu erfassen und nicht lediglich Sonn- und Feiertagsarbeit sowie Überstunden, wie bislang schon in § 16 Abs. 2 ArbZG vorgesehen. Dies gilt unabhängig von der Größe des Unternehmens und vom Bestehen eines Betriebsrats. Bislang hatten die meisten Experten angenommen, dass die Pflicht zur vollständigen Erfassung der gesamten Arbeitszeiten nur durch eine Ergänzung des Arbeitszeitgesetzes eingeführt werden könnte. Die Entscheidung des BAG vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) bringt weitreichende Folgen für Arbeitgeber mit sich. Der Gesetzgeber ist zum Handeln aufgefordert.
Im Arbeitszeitgesetz ist bislang keine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung enthalten. Eine gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung gilt demnach nur in Bezug auf Überstunden und Tätigkeiten an Sonn- und Feiertagen. Bei einem Verstoß gegen diese Pflicht kann ein Bußgeld bis zu 30.000 € verhängt werden (§ 22 ArbZG). Der Gesetzgeber hat dem Arbeitgeber für die Erfüllung dieser Verpflichtung allerdings keine bestimmte Form vorgeschrieben. Als Nachweis kommen beispielsweise Stundenzettel Lohnlisten, Karteien oder digitale Dateien in Betracht. Eigenaufschreibungen der Mitarbeitenden sowie die Delegation der Aufzeichnungspflicht auf die Beschäftigten sind ebenfalls zulässig. Verantwortlich bleibt jedoch der Arbeitgeber selbst. Er muss deshalb die Erfüllung der Nachweispflicht durch geeignete organisatorische Maßnahmen überprüfen, ob die Mitarbeitenden der übertragenen Aufzeichnungspflicht auch tatsächlich nachkommen, z. B. durch regelmäßige Stichproben.
Mit der nicht nur bei Arbeitgebern, sondern auch bei Mitarbeitenden beliebten Vertrauensarbeitszeit sind weitreichende Aufzeichnungspflichten nicht wirklich kompatibel. Kennzeichen der Vertrauensarbeitszeit ist es, dass der Arbeitgeber darauf vertraut, dass die Mitarbeitenden ihre geschuldete Tätigkeit in dem vereinbarten Zeitumfang auch ohne Kontrolle durchführen. Die Mitarbeitenden sollen Lage und Verteilung ihrer Arbeitszeit unter Berücksichtigung der Unternehmensinteressen selbst bestimmen.
Die Arbeitszeitrichtlinie der Europäischen Union gab bereits 2019 Anlass zu einer richtungweisenden Entscheidung des EuGH (Urteil vom 14.05.2019, C-55/18). Demnach müssen die Mitgliedstaaten alle Arbeitgeber zur Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung verpflichten. Der EuGH lässt den Mitgliedstaaten jedoch einen gewissen Spielraum hinsichtlich der Modalitäten der Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere im Hinblick auf dessen Form. Das System muss jedoch laut EuGH „objektiv, verlässlich und zugänglich“ sein.
Welche Konsequenzen zog man in Deutschland aus dieser Entscheidung? Der Ball für die Umsetzung der Entscheidung des EuGH war nun beim Bundesgesetzgeber zu sehen. Eine sofortige und unmittelbare Verpflichtung der Arbeitgeber sei mit der EuGH-Entscheidung noch nicht verbunden. Die deutsche Politik scheint sich dieser Sicht angeschlossen zu haben. So ist laut Ampel-Koalitionsvertrag zu prüfen, „welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitszeitrecht sehen“.
Anders sah dies bis jetzt nur das ArbG Emden. Das ArbG Emden ging in zwei Entscheidungen aus 2020 davon aus, dass aufgrund der europarechtlichen Vorgaben eine unmittelbare arbeitgeberseitige Pflicht zur Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung bestehe. Konkret ging es um Klagen auf Zahlung von Stundenlohn, welche die Kläger/innen anhand eigener Zeitaufzeichnungen begründeten. Der Arbeitgeber bestritt die Richtigkeit der Aufzeichnungen, ohne jedoch die möglicherweise richtigen Daten einer eigenen Zeiterfassung vorlegen zu können. Das Gericht gab den Kläger/innen recht, weil der Arbeitgeber kein System zur Arbeitszeiterfassung implementiert habe, obwohl er nach den Vorgaben des EuGH dazu verpflichtet sei. Hier zeigt sich ein nennenswertes Risiko für Arbeitgeber, die der neuen Pflicht nicht nachkommen.
Ein Betriebsrat hatte die die Einführung einer Arbeitszeiterfassung verlangt, der Arbeitgeber hatte dies abgelehnt. Der Betriebsrat beantragte daraufhin beim Arbeitsgericht Minden die Einsetzung einer Einigungsstelle. Das Arbeitsgericht Minden lehnte den Antrag ab. Das LAG Hamm hob die Entscheidung in der zweiten Instanz auf. Der Betriebsrat habe Anspruch darauf, in einer Einigungsstelle über die Einführung eines Zeiterfassungssystems zu verhandeln. Europarechtliche Betrachtungen ließen Arbeitsgericht und LAG vermissen.
Das BAG lehnte nun das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats und damit die Einrichtung einer Einigungsstelle zwar ab. Denn – so ein feststehender Grundsatz – ein Mitbestimmungsrecht gibt es nur, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Eine gesetzliche Pflicht zur Einführung eines Zeiterfassungssystems durch den Arbeitgeber ergebe sich aber bereits aus § 3 Abs. 1 ArbSchG. Dieses sei unionsrechtskonform auszulegen. Der Arbeitgeber müsse daher ein System zur Arbeitszeiterfassung einführen. Kurzgefasst: Arbeitszeiterfassung ist bereits jetzt Pflicht für alle Arbeitgeber!
Bislang gibt es lediglich eine kurze Pressemitteilung des BAG. Die detaillierten Gründe für das Urteil werden wohl noch ein paar Wochen auf sich warten lassen. Einige Schlussfolgerungen wird man aber jetzt schon ziehen können.
Alle Arbeitgeber haben nunmehr auch nach dem BAG die Pflicht, ein System einzurichten, mit dem die Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann. Damit wird für viele Arbeitgeber erheblicher bürokratischer Aufwand verbunden sein. Arbeitgeber, die jetzt noch keine Zeiterfassung haben oder einführen, unterliegen dem oben beschriebenen Risiko bei Lohnzahlungsklagen zu unterliegen, weil sie die Aufzeichnungen ihrer Mitarbeitenden nicht adäquat widerlegen können. Das wird insbesondere bei der Geltendmachung von Überstunden relevant werden. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ändert nach zwei aktuellen Urteilen des BAG (4.5.2022, 5 AZR 359/21 und 5 AZR 474/21) aber nicht die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess. Bußgeldbescheide drohen aktuell jedoch noch nicht, weil die gesetzliche Vorschrift des § 3 Abs. 1 Arbeitsschutzgesetz, aus der das BAG die Zeiterfassungspflicht herleitet, noch nicht durch eine Bußgeldnorm unterlegt ist. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass dies so bleibt.
Unklar ist, welcher Spielraum Arbeitgebern bei der Einführung eines solchen Zeiterfassungssystems bleibt. Es muss nach dem EuGH jedenfalls „objektiv und verlässlich“ sein. Eine Selbstdokumentation durch die Mitarbeitenden wird man bei entsprechender Gestaltung wohl ebenfalls für tauglich halten können. Hier wären konkrete Vorgaben in den Entscheidungsgründen oder einer etwaigen gesetzlichen Regelung wünschenswert.
Insbesondere hinsichtlich der Vertrauensarbeitszeit wird die Pflicht zur Aufzeichnung der gesamten Arbeitszeit negative Auswirkungen haben. Eine reine Vertrauensarbeitszeit, bei der von jeglicher Überwachung abgesehen wird, wird sich nur schwer mit einem Zeiterfassungssystem in Einklang bringen lassen.
Es ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber nun zeitnah tätig wird, um die Zeiterfassungspflicht im Arbeitszeitgesetz zu erweitern. In diesem Zusammenhang wird sehr wahrscheinlich auch die bereits bestehende Bußgeldvorschrift des § 22 Arbeitszeitgesetz auf die generelle Zeiterfassungspflicht ausgedehnt werden. Damit ergibt sich für Arbeitgeber künftig ein weiteres substanzielles Risiko etwaiger Non-Compliance.
Die weitere Entwicklung werden wir selbstverständlich weiterverfolgen und Sie gerne informieren.
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